Liebe[n] & Tod[e] – Erzählband

Liebe[n] & Tod[e] – Erzählband Buchcover

2022 erschienen bei
Königshausen & Neumann

ISBN 978-3-8260-7700-5
202 Seiten, € 18,–

In seinen Erzählungen führt uns Michael Reicherts in Labyrinthe des Liebens und Verlierens, der Sehnsüchte und der Suche nach dem anderen. Wir erfahren von den Überraschungen und der Endlichkeit unserer Begegnungen – und des Lebens. Wir lesen vom Verirren in einer Körperlandschaft, einem Doppelleben in Erinnerungen, vom Kampf eines Jungen an der Seite seines Ameisenvolks, von einer Höhenwanderung in die Vergangenheit, prall von ungelebtem Leben – oder von einer Liebe über den Tod, die in den Gedichten einer Trauernden und eines Fremden auf einem frischen Grab Gestalt annimmt...

Die meisten Erzählungen gipfeln in der Begegnung zweier Menschen. Sie bringen Grenzsituationen zum Ausdruck, die aufwühlen, verwirren und verwandeln können – und an denen man scheitern und wachsen kann. Ihre Entwicklung und ihre Auflösung verwenden unterschiedliche Erzähltechniken: Rückblenden, Doppelperspektive, Verschachtelung der Erzählstränge und Überlagerung des Beobachteten, des Erinnerten und des sich gerade entrollenden Geschehens – mit teils überraschenden Wendungen. Die Erzählungen beinhalten Gefühle des Erschreckens und der Trauer über den Verlust von Beziehungen, der Einsicht in ihre Einzigartigkeit, verbunden mit Neugier, Hilflosigkeit oder der Hoffnung auf einen möglichen Neubeginn.

Die Erzählungen sind wie ein Versuchsraum, in dem emotionale und soziale Extremsituationen erkundet, mögliche Antworten erprobt und in eine sprachliche Gestalt übersetzt werden. Sie sind psychologischer Genauigkeit verpflichtet und ihre emotionale Intensität ist bisweilen wie eine Operation am offenen Herzen.

Leserstimmen

"Die Geschichten von Michael Reicherts schlagen den Leser intensiv in Bann. Die Subtilität und Tiefe der auftretenden und sich begegnenden Persönlichkeiten ist zugleich berührend und wieder und wieder aufrüttelnd, gar aufschreckend: im Verbund mit den je eigenen Konstruktionsprinzipien der Stories und auch überraschenden Wendungen werden Leser und Leserinnen aus üblichen Erwartungen herausgerissen und in existentielle Grenzsituationen und Wendungen geführt. Inhaltlich fesseln die Geschichten mit ihrer Menschlichkeit und Hoffnung (eben den 'Lieben'), aber auch ihrer Konfrontation mit Scheitern und Endlichkeit (den 'Toden') und der damit verbunden Trauer. Sie erzählen von überraschenden, merk-würdigen, wunderbaren, erschreckenden, scheiternden und endenden, aber immer einzigartigen Beziehungen. Die Protagonistinnen und Protagonisten werden einerseits von hoffnungsvollen Erwartungen und Neugier, sorgender Näherung und bedrohter Nähe, intellektuellen Feuerwerken, schöpferischen Aktivitäten und aufflammenden liebenden, auch erotischen Gefühlen mitgerissen. Immer wieder sickert ein, dass ihre berührenden Beziehungen mit ihren Umständen je schon immer 'kontaminiert' sind, durch Vorbelastungen, durch aufflammende Konflikte und fortwirkende Traumatisierung, durch herzzerreißende Kontaktsuche, durch tragische Verstrickungen."

Helmut Pauls, Berlin

"Ich habe Liebe[n] & Tod[e] mit großer Freude gelesen, ja verschlungen. Die Plots decken ein breites Spektrum ab, und die 'Short Stories' sind spannend zu lesen. Es gibt immer wieder unerwartete Wendungen, man weiß nie im Voraus, wie die Stränge zusammengeführt oder allenfalls aufgeschlüsselt werden. Mir gefällt auch das Nicht-Gelüftete, das Geheimnisvolle, das bloß 'Angetönte', das 'In-Der-Schwebe-Bleibende' vieler Geschichten. Es menschelt, wie man in der Schweiz, wo die Geschichten zum Tell spielen, anerkennend sagen würde.

Wir treffen das Personal dieser Geschichten in den verschiedensten Habitaten, da sind zufällige Begegnungen, zum Beispiel in einer wilden Berglandschaft, auf einem Friedhof, aber auch vermeintliche Jagdabenteuer in der Leere eines abstoßend-verführerischen Resorts der Tourismusindustrie. Menschen verschwinden, machen sich aus dem Staub, anderen bleibt nichts anderes übrig, als zu gehen. Wir begegnen Gewalt in verschiedenen Ausprägungen, Zeiten und Weltgegenden, und erleben, was die jeweiligen Situationen mit den Menschen machen, die dort leben. Was sind Folgen von Terrorismus, Diktatur, Gewalt, Krieg? Hier sind die Menschen entwurzelt oder sind vor dem Gemetzel in ihrer Heimat in die Ausbeutung der vermeintlich hellen Welt geflüchtet. In mehreren Geschichten spielt die Natur eine wichtige Rolle, mal ist sie beschaulich, mal übermächtige Kulisse, mal bedrohlich, mal lockend, einen Kick zu gefährlich.

Einige der Charaktere haben ein (wissenschaftliches) Verlangen die Welt zu erfassen, genau zu wissen, was ist – mit Hilfe von Zoologie, Biologie, Psychologie, Psychoanalyse, Informatik. Ein Schreibender tritt auf, auch er will die Welt erfassen, indem er schreibend alles festhält, was um ihn herum geschieht, und sich dabei in einen Krampf schreibt. Er wird bei seinem Tun beobachtet und für sein auswegloses Bemühen kritisiert. Eine Wechselwirkung setzt ein, eine Geschichte hört auf, eine Geschichte fängt an. Welten finden zueinander, oder sie versuchen es wenigstens.

Man kann sich neben der breiten Palette an Menschen, Landschaften, der Fülle von Lebensentwürfen und Beziehungen aber auch an der Sprache freuen, an den präzisen Formulierungen, wo jeder Gegenstand das träfe Wort findet. Sie bleibt im Fluss, der Reichtum des Wortschatzes wirkt nie aufgesetzt, gesucht oder anstrengend, sondern leicht und locker. Ein vielfältiges Vergnügen."

Peter Tremp, Solothurn

"Es sind alltägliche Situationen. Mutter und Sohn sitzen in einer Brasserie. Ein Mann und eine Frau begegnen sich auf einer Hochebene. Vordergründig, auf den ersten Blick, ist das nichts Besonderes. Die Erzählungen nehmen mich aber schnell mit in den Mikrokosmos menschlicher Beziehungen. In 'Verschränkte Dialoge' erfahre ich mehr über den 'verlorenen Sohn' und seine ihn verzweifelt liebende Mutter, die spürt, dass sie ihn verlieren wird. Die Geschichte besticht nicht zuletzt durch den Wechsel in die Ich-Perspektive. Am Ende wird der Erzähler von seiner eigenen Fiktion (oder Realität?) eingeholt. Hält er sich in seiner neutralen Beobachterrolle versteckt? Unmöglich im eigenen Liebesdialog!

So alltäglich die Situationen sind, so inhärent ist ihnen oft die Tragik. Das Motiv des Abgrunds unterstreicht in einigen Geschichten, dass es immer wieder um Grenzsituationen geht, die tragisch enden können. Zur Tragik gesellt sich manchmal der Trost. Eine der schönsten Geschichten ist für mich 'Der Himmel über der Greina'. Die Begegnung auf der Hochebene wird einfühlsam und scheinbar ohne jede Dramatik erzählt. Der Verlust des Kindes, die behutsame Annäherung zwischen zwei Fremden, das tröstliche Ende des Tages. 'Staub' ist für mich die eindrucksvollste Erzählung. Nicht nur weil sie – wie fast alle Geschichten – auf unerwartete Weise endet, sondern weil das Ende ebenso fantasievoll wie skurril anmutet: Was wird eine Künstlerin mit der Asche des toten Geliebten machen?

Jede Geschichte ist spannend bis zum Schluss. Es ist eine hohe Kunst in einer kurzen Erzählung über wenige Seiten den Spannungsbogen aufzubauen und ihn bis zum letzten Satz zu halten. Das ist hier gelungen. Die Themen um Liebe[n] und Tod[e] werden sehr umfänglich, nuancenreich und mit genauer Beobachtung ausgeleuchtet. Weil das sehr wortmächtig geschieht und mit Sprache spielerisch/experimentell umgegangen wird, ist die Lektüre ein außerordentlicher Genuss."

Peter Zander, Wien

"Liebe[n] & Tod[e] beschert Überraschungen, zeichnet subtile und teilweise gern tabuisierte Facetten des Zwischenmenschlichen. Die 'Verschränkten Dialoge' verschränken kunstvoll gelungen verschiedene Aktorebenen, die den Schreibenden einschließen. Auch die Handlungsorte finde ich ansprechend. 'Tod und Teufel' sind für mich im Buch als Todesvariante neben anderen 'Toden' eine markante katholische Todesvignette. Sie lässt in die verzauberte Welt mit Gott und seinen Dämonen einer katholischen Vergangenheit blicken. 'Ein Kuss, endlich' eine subtile Liebesgeschichte der Abgründe und Tragik im Geschlechterkampf – und 'Letzte Näherung' überrascht mit einer brüsken Wendung: Psychoanalytiker werden am Ärgernis, dass Abwege zu Erkenntnis führen können, keine Freude haben…"

Meinrad Perrez, Fribourg

"Der Schreibstil ist ein Brillantfeuerwerk an Wörtern und Wortkonstellationen. Eindrucksvoll ebenfalls der Facettenreichtum zwischenmenschlicher Beziehungen. Durch die messerscharfe und fantasievolle Beschreibung der Personen (äußerlich und ihr Innenleben betreffend), ihrer Handlungen und Umgebungen entsteht im wahrsten Sinne richtiges Kopfkino…"

Werner Haubrich, Bingen

"Ich habe das Buch mit großer Faszination gelesen – der fulminante Einstieg der ersten Geschichte ('Verschränkte Dialoge'), mit ihren gespiegelten und verwobenen Situationen, hat mich gleich in den Bann gezogen. Und das gilt erst recht für das Crescendo zum Ende des Bands: für mich gehören die drei letzten Erzählungen ('Viola und der Regenbogen', 'Beute' und 'Liebe über den Tod') zu den stärksten des Buchs, dazu die eindringliche Sarah-Juan-Larnacq-Episode ('Letzte Näherung') mit ihrem Kontrast zwischen echtem Trauma und 'tau'…"

Hartmut Wittig, Mainz

C'est avec Viola und der Regenbogen que j'ai vraiment accroché : comme les personnages sont dévoilés entre réalité et fiction maternelle, comme le style est concis, la construction implacable. Ensuite, tout s'est enchaîné et c'est avec gourmandise que j'ai découvert Ein gewisses Etwas et Verschränkte Dialoge. J'ai beaucoup aimé Liebe über den Tod, la légèreté du style, sa variété comme sa poésie. Je me suis attaché à son héros et ce qu'il imagine sur Isis/Isa et Alex. J'ai eu envie de croire à son histoire et j'ai rêvé d'une rencontre fulgurante entre le poète enamouré et l'insaisissable veuve…

Robert Matathia, Fribourg

"Labyrinthe des Liebens - Keine banalen Strickmuster des Schicksalhaften in Michael Reicherts Erzählband 'Liebe[n] & Tod[e]'

Das Besondere, das Michael Reicherts, Professor der Psychologie, in seine zwölf Erzählungen von der Liebe und vom Tod packt, ist vielfältig und in jedem Fall als etwas zutiefst Menschliches erkennbar. Bestechend ist seine Genauigkeit in der Beobachtung… Um welche Liebe(n) geht es? Um die bei Paaren, langjährigen Freundinnen und Neu-Bekanntschaften, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, um enttäuschte Liebe und jene, die über den Tod hinaus die Seele beschäftigt. Der Titel des Buches wird mit eckigen Klammern geschrieben: Liebe[n] & Tod[e] – eine Andeutung dafür, dass hier ungewöhnliche Herausforderungen für das Vorstellungsvermögen lauern. Hier lässt ein Junge aus Eifersucht eine Heerschar von Ameisen auf seine pubertierende Schwester los – mit nicht revidierbaren Konsequenzen; eine Künstlerin stellt mit großem Erfolg 'eigentümlich leuchtende' Acryl-Gemälde aus, denen Fantasien mit ihrem Liebhaber über die Verwendung von Asche aus Urnen vorausgegangen waren. Zuweilen beginnt es ganz harmlos – wie die Perspektive von Kindern bei einer Trauerfeier, die unter dem Tisch kauern und Beine beobachten. Anderes lässt schon von vornherein vermuten, dass etwas ins Abstruse zugespitzt wird – wie in einer Episode mit den Liebesbriefchen auf dem Friedhof. Fürsorge, Respekt, Mitleid, Ekel, Begehren – das Spektrum der Empfindungen und Begegnungen ist breit… Man kann sich jedoch darauf verlassen, hier nichts Banales aufgetischt zu bekommen – keine Schicksale, eher Schicksalhaftes… Die Grundthematik ist Begegnung; wie ist Nähe herstellbar, wie lassen sich Nähe und Distanz – je nach Charakteren – verträglich regulieren. Liebe, deren Wandelbarkeit sowie Vergänglichkeit spielen ebenfalls eine zentrale Rolle… Die Erzählweise ist durchwirkt von Rückblicken, Verflechtungen, Szenenwechseln, Sinnlichem und Analytischem. Teilweise mutet das kompliziert an, gleichzeitig ist es aber raffiniert, was den Geist herausfordert…"

Renate Schauer, in Literaturkritik.de

Erfahren Sie mehr über die Erzählungen in dem Band:

Verschränkte Dialoge

Beim Essen in einem Bahnhofsrestaurant beobachtet ein Mann Ereignisse seiner Umgebung und macht davon Notizen. Dabei wird er Zeuge eines dramatischen Dialogs zwischen einer Mutter und ihrem drogenabhängigen Sohn, der bei der Auseinandersetzung plötzlich mit seinem Kopf in seinen Teller kippt. Dies erinnert ihn an eine Situation mit einer Freundin, die beim Essen mit ihm von einem traumatischen Flashback eingeholt wurde, wie sie in einem Café in Algier Zeugin einer Hinrichtung wurde… Ihre Schilderung hatte ihn damals sehr getroffen, und er spürt jetzt, wie sich die beiden dramatischen Dialoge verschränken und ihn in sein eigenes Schicksal einzuspinnen versuchen…

Leseproben:

„Der Sohn sprach nun noch schneller, noch mehr, atemlos bemüht, er wollte seine Mutter glauben machen, und sie nickte, kaum merklich, ängstlich, denn sie spürte sein überbordendes, verzweifeltes Bemühen. Wie oft hatte sie ihm geglaubt, an ihn geglaubt! Wie gerne würde sie weiterhin glauben, doch ihre Stimme verriet schon die stumme Verzweiflung, die in ihr wartete.

Ich verstehe, sagte sie, ja ich glaube, ich verstehe: Ich meine, das mit der Ferse, das mit der unteren Körperhälfte, das mit Jeannette… das mit dem Neuanfang… Sie wandte sich ab und weinte ein wenig, leise und tränenarm, als er über den Teller, den sie gerade etwas aufgeräumt hatte, hinweggriff und unbeholfen ihre Hand nahm. Sie wusste, er war noch nicht heimgekehrt, ihr verlorener Sohn, und vielleicht morgen, übermorgen Nacht, würde sie ihn endgültig verlieren. Sie wusste, auf der Toilette hatte er etwas nehmen, sich stärken müssen, um ihr so gegenüberzusitzen, sie überzeugen zu können, um ihr, so unbeholfen wie immer, seine Liebe zu zeigen.

Ich vermied es, aufzuschauen und schrieb mit, noch tiefer in mein Moleskin gegraben, immer schneller, bis ich stenografierte, sogar die Pausen, wie ein Gerichtsschreiber. So schrieb ich mit an dem Schicksal von Mutter und Sohn, und es war ein harter Job. Die Worte gingen ungefiltert, unter Druck aufs Papier, mein Stift war schnell und doch grub er sich ein. Auch ich hätte heulen können, ungläubig.

Der Sohn lachte, als er spürte, wie ihn der Stoff jetzt zu erfassen begann und auf seinem Chefsessel nach oben hob. Lachend zeigte er seine schwarzen Zähne, seine Zahnlücke vorne. Und seine Mutter erkannte ihn wieder, wie er vor langer Zeit seine Hygiene verlor – als er begonnen hatte, sich selbst zu verlieren, denn ihr war er längst entglitten.

Sie lachte nicht. Sie sah ihn ruhig an und sagte plötzlich, ganz klar und langsam, betonte jede Silbe, wie vor einem lernenden Kind: Eins musst du wissen, Pierre! Ich habe es noch nie gesagt und werde es auch nicht wieder sagen, hörst du? Ich drohe dir nicht – ich erpresse dich nicht! Mein Leben ist einfach zu Ende. Wenn du an dem Zeug stirbst, bringe ich mich um!"

~

„Das Flashback hatte Aischa vor mir im San Antonio getroffen, (es hätte jede andere Pizzeria sein können) wie die Schüsse im Café la Liberté, und riss auch mich aus dem charmanten Flirren. Fassungslos über die grausame Gewalt, die Yasser und ihr widerfahren war. Fassungslos von der unvorbereiteten, direkten Art, wie sie mir plötzlich davon erzählte, ohne jede Vorwarnung, ohne jedes Zeichen. Wie die Exekutionsbrigade, die Yasser hinrichtete, denn er hatte gegen die Brigaden geschrieben, er hatte auch Namen genannt, unerbittlich mit seiner Schreibmaschine, trotz der Drohungen am Telefon, die er zuvor erhalten hatte…"

~

„Lange Zeit sprachen wir nicht. Wir saßen vor unseren Tellern. Aischa nickte dem Kellner aus unbestimmter Ferne zu, als er die Vorspeise abservierte und die Pizza brachte. Sie blieb bewegungslos, während ich einen mutlosen Schnitt führte und einen Bissen nahm, wie fremde Materie. Ich versuchte kaum mehr, ihn zu schlucken. Mit Aischa war auch ich tief getroffen. Hilflos fühlte ich mit und empfand doch nur wortloses Mitleid. Da kamen nur Floskeln in mir auf, psychologische Floskeln, politische Floskeln, die ich sofort als Floskeln erkannte und unterdrückte, nur entrüstetes Mitleid und ungläubiges Verständnis erfassten mich, die aber immer zu klein sein würden für dieses Entsetzen, dem ich gegenübersaß. Wir spürten, noch gab es keine Nähe, keine Zärtlichkeit, um anders damit umzugehen. So war ich verstummt, ehe ich zu sprechen begann."

Tod und Teufel

Sie schildert den Tod aus Kindersicht: Der im schönsten Zimmer des Bauernhauses aufgebahrte Tote, der Onkel des Jungen, hatte einen Motorradunfall. Man folgt dem Jungen bei der Begegnung mit dem Toten, bei dem Begräbnis im Regen, man sieht das Dorf, die ländliche Welt, den Leichenschmaus. Der Junge trauert sehr um seinen Onkel Fritz, mit dem er vor Wochen noch auf einem Jahrmarkt ausgelassen Autoscooter gefahren ist, wo sie einem wilden, tätowierten Mann begegnet sind, der sie, kaum hatte er sie entdeckt, mit seinem Scooter unerbittlich verfolgte…

Leseproben:

"Als sie um die Trauergäste an der langen Tafel strichen, sah Daniel: Hälse wurden schon bald gefurcht und begannen zu altern, eingeklemmt in steife Hemdkragen, unter denen die langen schwarzen Trauerkrawatten hervorkamen, oder in weiße Stickkragen bei den Frauen. Die Hälse, die Gurgeln zeigten Vergänglichkeit. Aber Fritz hatte noch einen glatten Hals. Abgebrochene, braune und verfaulte Zähne zeigten das Altwerden noch früher. Daniel ging um die ganze lange Tafel und sah sie sich alle an, verstohlen, aus der Nähe, die Züge, Hälse und Zähne, und er fragte sich, wer wohl der Nächste war, der sterben müsste, und fast alle erschienen ihm gleichermaßen gefährdet. Auch er und Elias trugen Trauer: Um den Kragen ihrer weißen Hemden hatten sie eine kleine schwarze Fliege mit einem Gummiband gebunden. Aber ihre Hälse bekamen nur Falten, wenn sie sich umdrehten."

~

„Sag ihm auf Wiedersehen, flüsterte Jakob, denn wiedersehen werden wir uns ja hoffentlich alle da oben, und sein Blick wischte düster über die Balken der niedrigen Decke… Und sag ihm, was für ein Dummkopf er ist, dass er auf der falschen Seite gefahren ist!

Daniel schauderte bei der Berührung der Wange und verglich die Züge des Dummkopfs mit dem Gesicht von Fritz, das er noch vor ein paar Wochen gesehen hatte.

Fritz hatte ihn auf das Weinfest mitgenommen. Er bekam Sinalco und durfte an Fritz' Weißwein nippen. Sie waren zusammen in die Schiffsschaukel gestiegen und fuhren dann ausgelassen in dem Autoscooter mit einem der kleinen elektrischen Autos. Fritz interessierte sich nur für Zusammenstöße. Nach einigen Runden war ihr Auto auf der ganzen Bahn gefürchtet, alle versuchten, ihnen auszuweichen, bis auf einen – der es auf sie abgesehen hatte.

Da, der Teufel!, rief Fritz Daniel zu, durch den ohrenbetäubenden Lärm, durch das Kreischen und Jauchzen und die Musik hindurch, die man in die Selbstfahrerbahn pumpte. Der Mann fuhr wie der Teufel und sah auch so aus: lange Koteletten, ein schmaler Schnauzbart, unrasiert. Eine Tätowierung, Flammen und Messer, rot und blau, krochen aus dem Unterhemd über die Oberarme und den Hals hinauf. Seine tiefliegenden Augen drangen in sie ein, ohne Regung…"

Ein Kuss, endlich

Diese Geschichte erzählt von der komplexen Beziehung zwischen drei Frauen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt: Katrin und Helene, die an der Kunsthochschule zu engen Freundinnen werden, und Luise, eine mütterliche Freundin, die Katrin für sich gewinnen kann, die aber auch Helene gegenüber stets liebevoll zugewandt ist. Katrin zieht schließlich mit Luise zusammen, und die beiden werden ein Paar, während Helene heiratet und eine Tochter bekommt. Die Erzählung schildert die Konflikte, Eifersüchte, Koalitionen und Auseinandersetzungen der Freundinnen und die Entwicklung ihrer Beziehungen über die Jahre – bis zu einem Kuss, endlich…

Leseproben:

„Über Luise, der es nicht gelingt, ihren Zigarillo anzuzünden, hängt ein Mobile. Es erhält neuen Schub von der Zugluft, als Helene die Etagentür öffnet und eintritt, unbemerkt von Luise, deren Zigarillo ihre ganze Aufmerksamkeit verschlingt. Die Musik der rufenden Wale, des Chors von Frauenvokalen und der in Zeitlupe pulsenden Glocken spielt zu den gravitätischen Rotationsbewegungen der Objekte, die an dem Mobile aufgehängt sind. Luise scheint nichts davon zu sehen und zu hören. Auch als Helene zu ihr tritt und sie begrüßen will, zeigt sie keinerlei Regung. Sie hebt nicht einmal den angestrengten Blick vom Feuerzeug. Helene sieht kurz zu dem Mobile hinauf und geht, aufgewühlt, durch den langen Flur nach hinten zu Katrins angelehnter Ateliertüre, aus der die Musik kommt.

Katrin steht, an den Rand ihres Arbeitstisches gelehnt und erwartet sie. Als eine der großen schlanken Frauen jener Generation trägt sie dunkelblaue Keilhosen, die in braunen Slippern enden. Der weite Pullover mit einem üppigen Schildkrötenkragen ist mit geometrischen Formen bestickt, bunt wie ein explodierendes Farbspektrum. Sie legt Wert auf Kleidung, die weite Bewegungen erlauben; oft hat sie sie selbst entworfen. Halb sitzend, halb angelehnt, scheint Katrin wie auf dem Sprung und breitet die Arme aus, um Helene zu empfangen.

Helene ist tief erschrocken über Luises Zustand, die sie seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus gerade zum ersten Mal gesehen hat: Luise mit ihrem zweigeteilten Gesicht, die sie bei ihrer Ankunft gar nicht erkannt hat. Luise, die alle Konzentration und Energie auf den Zigarillo gewendet hat. Sie war in den äußeren Teil des Flurs, zu dem Fenster gerollt, das in den Innenhof geht. Katrin sollte nicht gleich bemerken, dass sie rauchte. Wie qualvoll schwer es ihr fiel, den verbotenen Zigarillo anzuzünden…

Und vor ihr steht Katrin mit ausgebreiteten Armen wie eine Gottesanbeterin, das Insekt, dessen Silhouette vor dem blendenden Licht des breiten Fensters ihr Opfer erwartet. Freundinnen seit so vielen Jahren! Kurz, herzhaft nimmt Katrin sie in die Arme und drückt sie an sich…"

~

"Scham und Ekel halten Helene fest: Sie ist wieder fünfzehn, spürt, wie die Zunge von Margot, dem Nachbarmädchen, ihre Lippen berührt, dann in ihren Mund eindringt, um ihr zu zeigen, wie ein Zungenkuss funktioniert… Wie ein großer warmer Regenwurm! – schaudert Helene – der in ihren Mund kriecht. Sie spuckt aus, in einem Schauer von Abscheu, und stößt Margot von sich. Die lacht sie aus, mit ihrem sinnlichen Mund, den sie verzieht und sagt: Es ist doch warm und aufregend, Helene. Ein Mädchenmund ist zarter. Jungs, ach Jungs! Die haben raue Zungen und schmecken so seltsam…"

Letzte Näherung

Paris, in der Gesellschaft der Neoanalytischen Psycho-Topologie eines gewissen Monsieur Larnacq: Sarah, eine Therapeutin psycho-toplogischer Orientierung, bringt in die Supervision mit dem Meister einen seltsamen Fall ein: Juan, einer ihrer Ausbildungskandidaten, liefert offenbar eine ebenso genaue wie bedrückende Beschreibung eines „Ausflugs" auf einer weiblichen Körperlandschaft. Darüber entbrennt ein Deutungsstreit mit dem Meister: Ist es eine Deckerinnerung, ein Trauma in verhüllter Form – oder etwas anderes mit dem Kürzel „tau"? Sarah gerät in den Sog von Juans Geheimnis – und riskiert eine „letzte Näherung", bei der sie sich verbotenerweise selbst als Person ins Spiel bringt.

Leseproben:

Eine steil abfallende Beuge. Blicke ich hinunter, sehe ich einen weichen Einschnitt, einen bewachsenen Abhang. Es ist heiß. Wenn ich den Kopf wende: vor mir eine Ebene mit unzähligen, winzigen Löchern, in der Mitte eine gewölbte Vertiefung mit kleinen gelblichen Gräsern. Unscheinbare Maserungen und Faltungen laufen quer darüber. Zwei steile Grate spannen sich rechts und links von einer kleinen Wanne nach oben. Weiter oben steigen scharfe Schatten bis zu einem rundlichen, etwas schrundigen Überhang, aus dem ein leichter, dunkler Flaum sprießt. Ich sehe hinauf: etwas wird geschehen – etwas ist geschehen – es wird kalt…

Sarah ist erstaunt, hochgeschreckt aus ihren Assoziationen, mit denen sie Juan begleitet, der vor ihr auf der Couch liegt. Es ist, als spräche ein anderer: Nicht nur verlangsamt sich sein Sprechen, verliert jede Wärme, wird monoton, dünn und verwaschen, sondern zugleich genau, bildhaft, detailreich. Die Landschaft tritt aus seinem Erleben hervor, ist wie herausgelöst...

Die Landschaft ähnelt einem Traumbild, doch hat sie etwas Unmittelbares – von ungreifbarer Bedrohung, Verletzung oder Gewalt?, fragt sie sich… Sie erscheint wie ein Solitär, wie eine Schutzzone im Umkreis einer nicht eingebundenen, unzugänglichen Erinnerung, eines Ereignisses, das ein – angemessenes – Sprechen darüber übersteigt, zumindest im Augenblick. So notiert sie es in dem großen Heft, das sie für Juan, wie für jeden ihrer Klienten führt…"

~

„Sie wartet darauf, dass er weiterspricht und beobachtet ihn jetzt, wie beiläufig, und sie entdeckt, wie er es vermeidet, sie anzusehen. Und jetzt, ganz auf seine Stimme konzentriert, ertappt sie sich, wie… wie sie sich erotische Spiele mit Juan als Jungen vorzustellen versucht…

~

„Die Psychoanalytikerin als Mutter, auch darum geht es – irgendwie – in den Landschaften, die Juan ihr schildert. Sarah weiß, das ist nichts Besonderes, im Gegenteil – aber bei Juan sieht sie noch nicht genau, wie, was geschieht, was die Verschränkungen sind, die Opfer, die gebracht wurden, die Opfer, die zurückblieben – das Szenario. Sie ist verwirrt, vor allem aber ist sie angezogen von Juan, von seiner geheimnisvollen Geschichte, und von den Landschaften, mit denen auch sie inzwischen begonnen hat, sich Körper vorzustellen – auch ihren eigenen."

Wo ist Mutti?

Diese Geschichte erzählt von Spätwirkungen und Schicksalen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Protagonist beginnt die Wohnung seiner Eltern auszuräumen, die sein dementer Vater nun verlassen wird: Er muss in ein Pflegeheim, die Wohnung wird verkauft. Oft, auch heute wieder, fragt der Vater nach seiner – inzwischen verstorbenen – Ehefrau: „Wo ist Mutti?". Unter ausgeräumten Büchern entdeckt der Sohn, neben vielen versteckten Spirituosen, einen Schuber mit Briefen, die auf eine frühere, geheim gehaltene, im Krieg verloren gegangene Liebe der Mutter hinweisen.

Leseproben:

„Als Gabriel sich an die Arbeit machte, um die Bücherregale leerzuräumen, fand er in Muttis oberer Buchreihe, neben Bänden von Lenz, Böll und Hesse und vielen anderen – Pearl S. Buck, Thomas Wolfe, Ivo Andrić – einen Buchkarton 'Krieg und Frieden', einen geschlossenen Schuber mit Silberprägung. Gabriel hatte ihn schon auf den großen Haufen geworfen, der an das Antiquariat ging, doch war er ihm plötzlich so leicht erschienen. Als er den Karton aufklappte, fand er Briefe. Die kräftige flüssige Handschrift in Sütterlin, die er zunächst nur mühsam entzifferte, stammte von einem Ulf Gabler. Gabriel wurde neugierig…"

~

„Wie anders war dieser Ton als alles, was er je zwischen Vater und Mutter hatte hören können, als alles, was er je bei ihnen gesehen hatte. Ungläubig las er von der Wärme und Entschiedenheit, mit der Ulf seine Greta anspricht, von ihrer Beziehung schreibt, ihre Liebe beschwört, den Kuss, die verzauberte Stille ihres letzten Treffens. Er zitiert ein Gedicht, frech, von dem damals geächteten Kästner. Auch das hatte Gabriel noch nie gehört. All diese Worte, all diese Wendungen in Sütterlin schienen ihm so fremd. Natürlich kannte er manches aus dem Repertoire von Bühnenstücken, von Filmen, von Literatur aus jener Zeit. Aber hier… Und plötzlich war es, als würden alle diese Worte direkt vor ihm, um ihn herum einschlagen: Sie galten Greta und sie hatten seine Mutter getroffen. Und mit ihr hatten sie nun auch ihn berührt? Er schluckte. Diese Zeilen waren Sprengstoff, der über Jahre in ihrem Hause gelegen hatte. Seine Mutter hatte die Briefe hinter sich gewusst, sie machten sie stark in ihrer Sehnsucht, einer Sehnsucht, die sie zugleich schwächen und allmählich aushöhlen musste. Wann, wie oft wohl hatte sie die Briefe hervorgeholt? Wie oft mochte sie diese Worte, diesen Ton und diese Bilder gesucht – und ertragen haben?"

~

„Es war das erste Mal, dass Gabriel so in seine Geschichte eindrang. Vor ihm öffnete sich ein unerwarteter Raum und sog ihn in seine Kindheit hinein. Mit diesem aufrichtigen, aber immer entfernten, meist mürrischen Vater, in sich gekehrt, wortkarg und kühl. Der auch den Jungen gegenüber ebenso pflichtbewusst wie unbeholfen war, aber oft abweisend und herabsetzend sein konnte. Und mit dieser Mutter: so bemüht und ungeschickt werbend um ihn und Tobias. Mit ihrem Gesicht, das er nie schön fand, mit ihren schmalen braunen Augen, die er nie mochte, weil er diese Augen auch bei sich selbst entdeckt hatte. Mit ihrer Unsicherheit und all ihrem Kümmern um sie, die Jungens…"

Noel

Professor Abgottspohn ist eine Kapazität auf dem Gebiet der Neuropsychiatrie, Schwerpunkt Kommunikationsforschung. Bei einem Gastvortrag am Weihnachtsvorabend lernt er Eliane kennen, eine fortgeschrittene Studentin der Psychologie. Die anschließende Liebesnacht der beiden hat Folgen: Sie werden ein Paar – und bekommen einen Jungen, den sie Noel nennen. Abgottspohn bemüht sich lange Zeit, unbeholfen, mit dem stillen Jungen in Kontakt zu kommen, doch er erreicht ihn erst bei ihren Spielen auf einem Spielteppich, mit unzähligen Autos, Bauten, Straßen, städtischem Treiben. Ein Höhepunkt ist, wenn Abgottspohn dort einen hilflosen Vater spielt, der am Steuer die Orientierung verloren hat und von seinem Sohn „Leon" durch das städtische Dickicht dirigiert werden muss, denn er vergisst den Weg – und schließlich auch sein Ziel…

Leseproben:

„Sie hatte sich nicht getäuscht, denn an dem Abend noch gingen sie zusammen essen. Er hatte vorsorglich ein Hotelzimmer reserviert, falls es später würde nach seinem Vortrag. Immer wieder verlangsamte er seine Rede, zögerte, suchte bewusst nach Worten, machte schließlich längere Pausen. Beim Dessert fühlte sie sich plötzlich durchflutet von einem Rausch des Vertrauens. Mit ihrer linken Hand berührte sie flüchtig sein Handgelenk und sprach von diesem Vertrauen. Natürlich sagte sie nichts von dem Rausch – nur einfach, dass sie ihm, seiner Arbeit und seiner Person tief vertraue… Er sah sie lange, offen und verletzlich an, das lebhafte Blitzen in seinen Augen schien fast melancholisch verschattet. Ihr war es, als ob ihre Blicke sich ineinander fraßen. Sie hatte den Eindruck, dass seine Iris, die eigentlich graublau war, wie sie bei der Vorspeise festgestellt hatte, plötzlich wie Enzian glühte. Nun schwamm sie auf einem Floß des Vertrauens…"

~

„Allmählich verstand Abgottspohn: Hier ging es um das wahre Leben, hier spielte er um sein Leben, um sein Leben mit dem Jungen. Hier ging es um den Alltag, um große und kleine Katastrophen, um Begegnungen, Buslinien, um ein kleines Mädchen, das seiner Mutter verloren gegangen war, oder um einen umgestürzten Obststand, wo Passanten auf den Bananen ausrutschten… Um einen Baum, der vom Sturm auf die Straße gerissen eine junge Mutter unter sich begrub – in dem einzigen kleinen Fiat 500, den sie unter ihren Modellautos hatten. Um ihr zu Hilfe zu kommen, mussten sie sich beeilen!... Zweifellos verstanden sie sich in diesem Spiel, zweifellos aber waren sie beide noch nicht, als Ueli und Noel, wirklich in Kontakt. Und er war beunruhigt: Wohin würde sich das Spiel eines Tages entwickeln? Was könnte an seine Stelle treten?"

Staub

Diane, eine bildende Künstlerin, gerät in eine akute Krise, einen „Nervenzusammenbruch", als ihr beim Verstreuen der Wind Asche ihrer verstorbenen Freundin in die Augen weht. Sie sucht Linderung bei ihrem neuen Freund, Pascal, einem Bergfex und Computerfreak, der bald mit seinen wenigen Besitztümern bei ihr einzieht. Neben den erotischen Linderungen ihrer Krise beschäftigen sich die beiden mit lebhaften Diskussionen über Malerei, Kreativität – und Begräbnisse. Doch auf einer Extrem-Bergtour in einer verlassenen Region der Karpaten verliert sich Pascals Spur.

Leseproben:

„Du hast es abgerieben und ausgespuckt, das ist gut!, sagte er zu ihr. Asche ist Asche – Staub ist Staub, dachte er nochmal. Und dass sie ein bisschen hysterisch wurde. Und sie steigerte sich noch: Aber es ist von Céline – es ist doch Céline, meine geliebte Céline! Es ist ekelhaft. Ihre DNA vielleicht, Chromosomen und so… Jetzt wimmerte sie: Wie ein Virus, den ich jetzt in mir habe. Aber du kannst dich beruhigen – was soll denn Schreckliches passieren: Es ist nur ihre Asche… Staub ist Staub! Versuche doch, es zuzulassen, es ist geschehen… Sie kannte Pascal ja kaum! Und er sagte nur: Staub ist Staub… lass es zu! Aber er war es, der ihr sofort in den Sinn kam, als sie nach dem Zwischenfall von Panik überfallen wurde: Célines sterbliche Reste unter ihren Lidern, auf ihrer Bindehaut, ihrer Schleimhaut, ihren Lippen. Karbonisierte Céline!"

~

„Diane fing ja erst an, ihn kennenzulernen. Was sie bisher stenografisch erfahren und sich zusammengedeutet hatte: Er war ein sanfter Hacker, ein Freier Kletterer, ein Bezwinger von Steilwänden und ein Streckenwanderer auf der ganzen Welt. Erforscher der Introversion und transzendentaler Meditationstechniken, ein Schreibender und – vielleicht – ein Wortkünstler konkreter Poesie, obwohl er nur wenig sprach. Natürlich hatte sie auch in seinem Blog gelesen, aber was sie dort zu entdecken glaubte, blieb ihr fremd. Doch sie fand einen Suchenden – mit Interesse für Überschreitungen und Übergänge: vom Wachen ins Träumen, ins Nirwana, für Widergeburten und letzte Dinge. Und er konnte stramm lieben und war bei der Sache. Seine Schwächen: Er kaute die Fingernägel ab und machte manchmal ein Gekämme und Gefummel mit dem Pferdeschwanz – und manchmal regelrechte Pfauenbewegungen. Das sah sie nicht gern… Aber, er war ja noch jung! Mit seinen Fünfundzwanzig fast fünfzehn Jahre jünger als sie."

~

„Ich glaube, ich kann das nicht mehr, diese Poyas malen. Es bringt mich in den völligen Stillstand. Andere Ideen und Projekte verrotten. Sie sprach mit halbvollem Mund und hatte Joghurtspuren auf der Oberlippe. Er sah ihr fasziniert zu, denn das liebte er an ihr: Dinge so unbefangen, spontan zu tun. Hier und Jetzt. Nachdem endlich das letzte Bilderrätsel gelöst war, das sie ihm auf den Rücken gepinselt und geleckt hatte – war des Bemühens und der Luzidität genug: Diane schien zufrieden, in einem Zustand zwischen Lässigkeit und Erregung. Er spürte es genau."

Ein gewisses Etwas

Ein zwölfjähriger Junge versucht sich von den Verstrickungen und Konflikten seiner Familie abzugrenzen, von seiner pubertierenden Schwester, seiner nähehungrigen Mutter, seinem zweideutigen, unaufrichtigen Vater. Er investiert alle Neugier und Leidenschaft in sein Ameisenvolk, das er zuhause hegt, füttert und beobachtet, um am Leben seiner Emsen möglichst direkt teilzuhaben. Menschliches Verhalten, Liebe, Erotik, Sexualität sind für ihn unerträglich und er sucht Ablenkung in den klaren Verhaltens- und Beziehungsformen, in der Eusozialität seines Ameisenvolks…

Leseproben:

„All diese Liebes- und Eifersuchtsspiele, die Anklagen, die Szenen zwischen Mama und Papa, die er beobachtete und aus denen er sich, so gut es ging, herauszuhalten versuchte. Er hatte sich schon längst in Sicherheit gebracht und blieb abseits von diesem Teilchensturm der Intrigen, dieser Ansammlung lächerlicher Individuen mit ihrem erbärmlichen Ego, von dieser Familie, die eigentlich auch Eusozialität leben müsste, aber es nicht vermochte, wie so viele andere Menschen. Bei ihnen stob alles auseinander, das heißt, abgesehen von dem Geschmuse und Getue zwischen Amy und Papa, und den Anbiederungen, mit denen Mama immer wieder versuchte, sich ihm zu nähern. Immer ging es um Vorteile, Privilegien, Aufmerksamkeit des Einzelnen, Nähe, Berührungen. Doch er war anders. Er war autonom, er brauchte das nicht. Es war ohne Nutzen für die Evolution, fand er. Er widmete sich ganz seinen Ameisen. Er las über sie, alles, was er bekommen konnte, vor allem aber arbeitete er für sie – und lebte mit ihnen. Amy hatte mit elf-zwölf, in seinem Alter, einen Hamster. Doch ging ihre Hamsterperiode zu Ende, je mehr ihre Brüste wuchsen, und je mehr sie mit Papa rummachte. Sie war in der Pubertät und ihre Sexualität ließ eine Verbindung mit einem so nichtigen Tier nicht mehr zu, dachte er. Papa war jetzt ihr Hamster. Oder war es umgekehrt? Ameisen sind gerecht. Sie richten Diebe und andere, die ihnen zu Leibe rücken wollen. Gemeinsam sind sie stark, fast unüberwindlich. Sie stellen die Ordnung zwischen den Spezies und innerhalb des Systems wieder her, und sie würden es auch hier tun, hier in der Wohnung."

Der Himmel über der Greina

Ein Wanderer steigt aus dem geheimnisvollen Val Lumnez in die karge, zauberhafte Hochebene der Greina auf, wo ihn die Schönheit der Landschaft gefangen nimmt. Sein Weg kreuzt sich mit dem einer Wanderin. Die beiden halten inne und beginnen ein Gespräch über den Zauber des Ortes. Doch bald erfährt der Wanderer, dass diese Frau in einem Ritual in die Greina aufgestiegen ist, um dort nach einem ungewöhnlichen, für sie zerstörerischen Verlust dem geliebten Menschen nahezukommen. Er begleitet diese Frau und sieht sich plötzlich selbst mit seiner eigenen, fernen Vergangenheit konfrontiert.

Leseproben:

„Auf der Hochebene, der einstigen Gletscherwanne, zwischen baumlosen, sanften Berghängen, ging er mit kräftigen Schritten den in dieser Jahreszeit meist trocken liegenden Mäandern entlang. Er genoss ihre Kargheit und Anmut, atmete mit der Umgebung: Immer neu verzweigten und vereinten sie sich, bildeten ungeheure, miteinander verschlungene und wieder ausufernde Zeichen, denen man folgen, in denen man sich verlieren konnte. Eine strahlende Kühle, ein zarter, würziger Wind zog über die Hochebene und mischte sich mit seiner Körperwärme, formte das Schweißrelief seiner Bewegungen, zeichnete Umrisse seines Berg-Selbst. Felsbrocken aller Größen, Gesteinstrümmer, verschliffene Flusssteine, kantenrund, Schotter und Kiesel, manchmal fein zermahlen, erstreckten sich über die ganze, langgezogene, graugrün schimmernde Ebene. Hie und da von leuchtend grünen Halmen, von Wollgras und seinen flockigen weißen Blütenköpfen, von Heidekraut oder rostigem, goldbraunem Moos verziert. Hie und da überlagert von dunklem, manchmal schwarzem Sand, den das lebendig fließende Wasser, selbst als Rinnsal, glänzend inszenierte. Die Gestalt, die er schon von fern, von links, auf seinen Weg, auf sich zukommen sah, nahm langsam Formen an. Ihre Bewegungen waren zögernd, ja versunken, seltsam abgewandt, und doch geschmeidig, der Kopf gesenkt und dann wieder gegen den Himmel gerichtet, blau, eingefasst von den graublaugrünen Gipfelzügen. Sie grüßten, als sie aufeinandertrafen…"

~

„Seitdem habe ich nur auf sie gewartet, lebendig oder tot, auf ein Zeichen, einen Brief, einen Anruf, auf einen Fund, der das Ungeheuerliche erklärt. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr anderen Menschen zuwenden. Erst monatelang krankgeschrieben, musste ich schließlich meine Arbeit als Krankenschwester ganz aufgeben. Ich war völlig kraftlos, unbrauchbar, aus der Bahn geworfen, wurde zu einer Hülle. Ich geriet in den zähen Strudel einer sich hinziehenden, quälenden Depression, alles verlangsamend, in verstummender Leere."

~

„Eine eigentümliche Vertrautheit begann die beiden zu umspinnen, seit sie vor den Steinmännchen stehen geblieben waren. Sie sagten nicht viel, verschworen, als wollten sie dieses menschennahe Gewimmel nicht stören. Jetzt lächelten beide, vorsichtig. Beide spürten, dass sie offen und berührbar waren, sie waren dabei, sich näher zu kommen. Sie berührten sich, flüchtig: Nebeneinanderstehend, deuteten sie gleichzeitig auf verschiedene Steinwesen, die so vergänglich diese karge Welt der Mäander bevölkerten, und ihre Hände kreuzten sich, berührten sich, flüchtig, zufällig…"

Viola und der Regenbogen

Drei Schicksale, drei Geschichten, sind in der Erzählung verschmolzen: Sirinah und Danica sind in Missbrauchserfahrungen gefangen, die sie an die Grenze ihrer Lebensfähigkeit bringen. Dagegen hatte Viola eine vielversprechende Kindheit und führt ein interessantes Leben. Doch sie gerät in Schwierigkeiten, als sie ihrer Mutter, einer versierten Autorin von Seifenopern, zu entkommen versucht, um ihrer neuen Freundin, Némina, nahe zu sein…

Leseproben:

„Ich war nichts – unter deinem Blick, sagte er. Nein, Wachs. Wachs war ich, unter deinem verhexten Mädchenblick. Und als du weggegangen bist, in die verhasste kalte Welt über die Alpen, hast du mich wieder verhext: Diesmal hast du einen bösen Zauber ausgesprochen. Wer dir dabei geholfen hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass du mich verflucht hast, als du weggegangen bist. Denn einen Monat später wurde ich krank. Da habe ich das erste Mal Blut gespuckt. Das erste Geschwür. Mutter ist an Deinen Lügen gestorben, ich bin an Deinem bösen Blick verrückt geworden – und werde bald an Deinem bösen Zauber sterben. Doch was er sagte, perlte an Danica ab. Sie kannte jeden Satz. Immer, wenn es ihr schlecht ging und sie den Vorhang des Tages kaum heben konnte, fing er damit an. Immer öfter, je kranker er schien, je schwächer sie sich fühlte. Versteinert, hörte sie kaum mehr zu, je kranker sie wurde, je mehr der Boden unter ihren Füßen nachgab, zurückwich. Sie war eine Hexe, an der ihr Vater gescheitert war. Erst wurde er krank an ihrem kleinen Körper, an ihrem Blick, jetzt an seinem Magen, den sie verflucht hatte, weil sie sich an irgendetwas halten wollte, um es zurückzustoßen, um ihn zurückzustoßen. So hatte sie als Kind verzweifelt gegen seinen Bauch geboxt, um sich zu wehren."

~

Mikrowelten in uns! Ohh!, dachte sie, das hat ja meine Tochter geschrieben!, als sie das Buch in einer Buchhandlung überrascht auf einem Regal mit den Bestsellern entdeckt hatte. Nur ein paar Seiten hatte sie angeblättert, lustlos, mehr aus Überraschung, vielleicht ein wenig aus Pflichtgefühl. Ein spröder Titel, aber nicht uninteressant, dachte sie weiter. Jetzt aber wühlte sie es aufgeregt aus dem Stapel unzähliger, aufgeschlagener Illustrierten, Bücher, Dokumente auf ihrem Schreibtisch heraus. Ich beginne sofort mit dem Lesen! Ich werde das Buch durchkämmen, mit allen Antennen nach Hinweisen stöbern, um Viola auf die Schliche zu kommen… Mikrowelten in uns! – Es ist unfassbar! Diese junge Frau besitzt alles, alles, wonach so viele Männer heute hungern: Entschlossenheit, Power, Intelligenz; sie sieht sehr gut aus – und streng. An solchen Frauen werden sie schwach und arbeiten sich ab, sehnen sich nach Auflösung ihrer Person, ihrer Persönlichkeit… und Viola? Sie verguckt sich in eine Frau, eine nichtssagende Frau…!?"

Beute

Bei ihrer Reise in ein Luxus-Resort auf einer Kanarischen Vulkaninsel sind zwei Menschen auf der Suche nach Beute: Yvonne Escher, eine attraktive Viktimologin, möchte Urlaubsentspannung mit der Beobachtung sich anbahnender Beziehungs"verbrechen" unter den Feriengästen kombinieren. Dagegen sucht Carlo Morv seine Beute in sexuellen Eroberungen, gleich welchen Geschlechts, solange sie nicht zu alt sind. So bewegen sich die beiden bei ihrer Suche nach Beute aufeinander zu.

Leseproben:

„Und wie ich die Farben des Meeres und der Sonnenuntergänge liebe! Die Düfte der starken Brandung und des botanischen Gartens, die kleinen Häuser, in denen man wohnt, wie im 'Pueblo'… Und wie ich die Beobachtung der kleinen Verbrechen im Urlaub liebe, die Demütigungen und Erniedrigungen, das Betrügen und den Liebesentzug, die Urlaubs-Crashs, wie sie sich vor meinen Augen entwickelten, zum 'Ausbruch' kamen, mit offenem Tathergang – ihren Entwicklungslinien! Es war großartig, Dinge 'kommen zu sehen', in ihrer Aktualgenese, wie sie in der Psychologie sagen: Echte 'Prognosen' zu erleben und nicht nur 'Retrognosen', die rückwärtigen, möglichst lückenlosen Erklärungen, mit Indizien und Leerstellen; 'Wie-es-möglich-war-dass'-Erklärungen, wie sie in der Viktimologie allgegenwärtig sind und uns alle umtreiben – bis zur Erschöpfung… Vielmehr mitzuerleben, wie Hässlichkeit, Grausamkeit, Betrug näher rückten und 'ausbrachen'. Nicht, dass ich mich am Leid der anderen weiden möchte… Es ist wohl doch eher ein neugieriger und abgekühlter wissenschaftlicher Blick, um fragiles und fragwürdiges Verständnis zu erlangen, vielleicht Gerechtigkeit herzustellen? So glaube ich jedenfalls, so versuche ich mir selbst zu glauben… Und, wer weiß, vielleicht dem vorzubeugen, was jemandem angetan würde. Eines Tages."

~

„Dort drüben ist sie ja wieder – verschwindet gleich im Haupthaus! Und endlich weiß ich, an wen sie mich erinnert: an Audrey Hepburn! Es ist vor allem ihr feines Gesicht, kindschön, doch etwas schmaler als bei der Hepburn! Die dunklen Haare und die dunklen Augen, mit dem leichten Silberblick (was sie von der Hepburn unterscheidet). Sehr fein und schlank, ähnliche Bewegungen wie die Hepburn… etwas jungenhafter ihre Gestalt. Welch eine Beute?! Ich wusste, dass der Roman 'Frühstück bei Tiffany' kein Happy End für Holly Golightly bereithielt, so wie in dem berühmten Film – das war Hollywood-Fake… Im Original war Holly Golightly verloren, weiter auf der Flucht vor Bindungen, Nähe- und Liebeshinweisen. Ich stelle mir vor, eine erste Begegnung konnte ihr eine Gänsehaut auf Arme und Rücken zaubern, der sie sich für kurze Zeit hingeben konnte, vielleicht verlängert durch ein paar Longdrinks oder eine Flasche Wein. Doch allzu bald verwandelte sich die Gänsehaut in Thrill, eine vorsichtige Erstarrung bei noch freundlichem Gesicht, trotz quälender Fluchtreflexe war ja noch Hoffnung… und Holly war eine Beute!

~

„Wie verrückt war das denn?! Dieses Persönchen, diese zierliche, junge Frau pustet mich mühelos in meine Vergangenheit. Das ist schwierig, schmerzlich – und es scheint, sie geht genau auf einen wunden Punkt, den ich Gian nie preisgeben, nie mit ihm klären konnte… Wie aufgeregt ich bin… Ich sage: Sie sehen, wie aufgeregt ich bin! So haben Sie noch leichteres Spiel!, und ich zwinge mich zu einem Lächeln… Glauben Sie mir, Carlo! Ich werde nicht spielen! Es geht um Ihr Leben, scheint mir, um Ihre Chance…"

Liebe über den Tod

Auf dem nächtlichen Heimweg, nach einem erfolglosen Eroberungsversuch, wo er mit seinem Liebesgedicht gescheitert ist, durchquert der zurückgewiesene Liebhaber einen Friedhof. Aus der Ferne entdeckt er dort eine Gestalt, trauernd vor einem Grab, die verschwindet, als er sich nähert. In das frische Grab sind kleine Papierröllchen gesteckt, auf die ungewöhnliche Abschiedsgedichte geschrieben sind. Angerührt von der Intensität der Botschaften, schreibt er ein tröstendes Poem und steckt es in die weiche Erde. Kurz darauf entdeckt er eine neue Botschaft auf dem Grab, die eine Antwort auf sein Gedicht sein könnte. Seine Neugier, seine Fantasie sind geweckt.

Leseproben:

„Betrunken, gedemütigt gehe ich in die Nacht: Als geschmerzter Nacktmull (das idiotische Bild, das ich mir vor dem Scheitern bei Ina selbst verpasst habe). Im Regen mache ich einen Umweg über den Friedhof, von einer halben Stunde oder mehr, ich weiß es nicht mehr, Aber es passt! Ich schimpfe und spreche zu den Toten. Habe genug Alkohol, genug Kontrollverlust, um Dummheiten zu machen, spüre den Stachel, loszulegen. Im dünnen Licht lese ich Namen, Jahre und Grabinschriften, ich pöbele die Toten und Titten an, schimpfe mit der Nacht, drohe der Nacht. Weiter vorne im Regen kniet jemand vor einem Grab… Als ich etwas mehr erkennen kann, glaube ich, Isis zu sehen… Isis? Den Oberkörper aufgerichtet, die Arme ausgebreitet. Den Kopf entschlossen erhoben, darauf ein Hut, wie ein Schwarzmilan, der Göttervogel, scheint mir, mit ausgebreiteten Flügeln. Die ägyptische Göttin wacht vor einem Grab, über das andere Reich… Das ist, was mir Regen, Demütigung und Wut zu erkennen erlauben, als der getretene Hund, der von Ina weggegangen ist – mit meinem verlachten Poem heller wahn – das ich nicht einmal zerrissen habe, um mich nicht noch mehr zu erniedrigen vor ihr. Vor der Klangkünstlerin!, lache ich bitter und knirsche auf den Steinchen unbeholfen näher, unter dem Schutz der Regengeräusche, die auf Efeu und Thuja niedergehen, ich dampfe, blind, durchnässt. Doch bevor ich die ägyptische Göttin erreiche, ist sie verschwunden. Nur ihre Spuren sehe ich, wo sie gerade gekniet hat, an einem frischen feuchten kahlen Grab, mit einer provisorischen Schieferplatte, in die Alex gekratzt war. Unbeholfen, vorläufig. In der weichen Erde entdecke ich ein paar dichtgerollte Papierröllchen, wie Zigaretten, die man in die Erde gedrückt hat. Meine Neugier wird wach. Eines ziehe ich aus dem feuchten Boden…"

~

„Heute bin ich wieder am Grab vorbeigegangen und habe eine neue kleine Schriftrolle gefunden… Atemlos Geschirr hab' ich zerdeppert, denn das haben wir versäumt. Ich hätte so gern einmal gestritten mit dir, Weißglut, nur um zu spüren, wie es ist, Geschirr zu zerschlagen, dir dabei zuzusehen und zu schnauben… Ich glaube, es wäre hinreißend gewesen: Ärger und Wut laufen scharf durch uns hindurch – Dann versöhnen wir uns! Atemlos. Dieses Mal entscheide ich mich, ihr zu antworten! Mit einem kleinen Poem, einer Resonanz in ihre Einsamkeit aus Schmerz, die ich mir vorstelle. Auf ein Notizbuchblatt schreibe ich…"

~

„Gerichte, die sie für ihn machte, waren immer schön, bunt, arrangiert und überraschend. Sie drapierte Glasnudelnester, verrührte kontrastierende Soßen und streute und träufelte Zutaten darauf, Gewürze und Kräuter und Blättchen. Brot schnitt und toastete sie, heller und dunkler, in Streifen und geometrischen Formen: die Brot-Zebras. Alex sollte sich sicher fühlen und doch nie langweilen… wenigstens, wenn sie aßen, kosteten oder kosten. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie wären immer noch Kinder, die ihr Leben spielten. Und die Stimme in ihr, die sich bei ihren Gedichten an ihn meldete, war zuerst noch klein, kleinlaut, kleingeschrieben…"